#1 – was ist Gewalt?

Wir nutzen den den Begriff beinahe täglich. Unbewusst. Betriebsblind. Was ist Gewalt und was nicht?

Es gibt verschiedene Definitionen dafür. Eine, die wir alle in der Schule gelernt haben (sollten), ist die Teilung der Gewalt innerhalb eines Rechtsstaats. Klingelt’s? Judikative, Legislative, Exekutive… Sie wissen schon.
Die WHO beschreibt Gewalt als absichtlichen Einsatz von Kraft oder Macht in tatsächlicher oder angedrohter Form. Sie kann gegen sich selbst, eine andere Person, eine Gruppe oder eine Gemeinschaft gerichtet sein und zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führen.

Je nachdem, welche Berufs- und Wissenschaftszweige man dazu befragt, erhalten wir eine andere Beschreibung dessen, was tagtäglich zuhause, auf der Arbeit oder auf freier Straße geschieht.

Gewalt kann sich auf verschieden Ebenen zeigen. Eine Unterteilung macht Sinn.

Wie wäre es mit diesen 4 Punkten?

  • Physische Gewalt: Körperliche Angriffe oder Zwangshandlungen, die zu physischen Schäden führen.
  • Psychische Gewalt: Handlungen, die das emotionale oder psychische Wohlbefinden beeinträchtigen, wie Bedrohungen, Erniedrigung oder Einschüchterung.
  • Sexuelle oder sexualisierte Gewalt: Jede Art von erzwungenem sexuellen Kontakt oder Übergriff.
  • Vernachlässigung und Deprivation: Das Vorenthalten von notwendiger Fürsorge, was zu Entwicklungsstörungen, gesundheitlichen Schäden oder sogar zum Tod führen kann.

Gewalt geht mit der Ausübung von Macht einher. Mit Machtmissbrauch. Das bedeutet, dass es eine überlegene Seite gibt und eine Seite (sagen wir eine Person oder Gruppe), die weniger Handlungsspielraum hat. Wir kennen das aus den Rangeleien unter Geschwisterkindern oder auch von den Geschichten, die der Schulhof so erzählt. Pausenbrot geklaut, Geld abgeluchst, Mobbing und so weiter und so fort.
Wie verhält es sich aber, wenn wir älter werden und mitten im Berufsleben stehen? Ist das dann auch so offensichtlich? Was ist mit den subtil mitschwingenden Botschaften innerhalb einer Partnerschaft, wenn zwar keine Drohung ausgesprochen wird, aber ein Blick, ein Zucken mit der Augenbraue Missgunst und Verachtung zeigen? Sprechen wir dann auch schon von Gewalt? Und sprechen wir von Gewalt, wenn ich unter Zeitdruck stehe, weil ich Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung unter einen Hut kriegen will, es aber nicht schaffe? Was ist das? Ist das Gewalt? Ja oder nein?

Eine ganz simple Antwort, die mir ein Kursteilnehmer gegeben hat, war: „Gewalt ist es immer dann, wenn mit dir was geschieht, was du nicht willst.“
Darunter fallen auch Naturkatastrophen und andere Ereignisse, auf die wir keinen Einfluss haben. Ereignisse, bei denen wir keine Person beschuldigen können. 

Gewalt und Macht sind oft eng aneinander gekoppelt. So befinden wir uns zeitlebens in Machtgefügen  – z.B. innerhalb unseres Familiensystems, als Mitglied einer bestimmten Gruppe oder auch kulturell bedingt. In diesen Systemen gibt es Strukturen, die machtvoll wirken. Wir erweitern den Begriff der Gewalt um die  Strukturelle Gewalt. Strukturelle Gewalt bezieht sich auf soziales Ungleichgewicht und auch institutionelle Mechanismen, die Menschen systematisch benachteiligen und ihnen grundlegende Menschenrechte, Chancen oder Ressourcen verwehren. Beispiele dafür sind Armut, Rassismus oder Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

Gewalt hat viele Gesichter. Wenn wir angemessen vor Gewalt schützen wollen, brauchen wir ein umfassendes, ja ein tiefgreifendes Verständnis davon. 

Welche Hintergründe hat Gewalt?
Welche Auswirkungen hat sie im engeren, persönlichen Kontext und welche in Hinblick auf eine ganze Bevölkerung?
Ist Gewaltfreiheit möglich?
Und wenn ja, wie?

GewaltFreie Kommunikation ist inzwischen nicht mehr wegzudenken. Anwender auf der ganzen Welt nutzen die Methode, um für ein besseres Miteinander zu sorgen. Ob in der Partnerschaft oder beim Gemeinschaftswohnprojekt, zwischen Leitungsebene und Mitarbeitenden und auch von Mentor zu Mentee und zurück – WIRachten auf unsere Sprache. „Ich-Botschaften“ noch und nöcher. Die Giraffe und der Wolf – beides Tiere, die nach diesem Konzept Sprachstile verkörpern. Die Giraffe, die sich zunächst einmal einen Überblick verschafft. Möglichst ohne zu bewerten. Der Wolf, der aggressiv kommuniziert. Immer ein bisschen zu laut, immer ein bisschen ungerecht. Aber – und jetzt betreibe ich womöglich Haarspalterei: Ist das nicht auch schon Gewalt in ihren Anfängen? Zuzuschreiben, dass die Giraffe die Gute ist und der Wolf der Böse? Bitte – verstehen Sie mich nicht falsch. In diesem Essay geht es lediglich um die Frage, was Gewalt ist.
Einige Male in meinem Leben, habe ich den Wolf im Schafspelz entdeckt, um kommunikativ auf dieser Ebene zu bleiben. Den Aggressor schlechthin im Mäntelchen aus propagierter Gewaltfreiheit. Da wird gesagt: „wir wollten doch nicht schreien!“ oder „Ich habe das Gefühl, dass DU…“ Und zack schnappt die Falle zu. Was auf leisen Sohlen daher kommt ist nicht im Sinne von Marshall B. Rosenberg, der sich umfangreich Gedanken zu dieser Art des Austauschs gemacht hat. Wenn die Prinzipien der GFK missverstanden oder falsch angewendet werden, kann dies zu einer manipulativen Kommunikationsform führen, die Druck aufbaut und Schuldgefühle auslöst, anstatt Verständnis und Verbindung zu schaffen. Um Gewaltfreie Kommunikation zu leben, braucht es ein enormes Maß an Reflektiertheit. Es braucht eine Fülle an Fähigkeiten. Nur ein einziger Kurs oder ein Buch, das wir darüber lesen, macht uns nicht zu besseren oder besser gesagt „gewaltfreien“ Menschen. 

Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen darauf hin, dass das Aggressionspotenzial einer Person steigt, wenn sie Frustration erlebt. Und hier möchte ich gerne Bezug nehmen auf die Bedürfnispyramide nach Maslow. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die auf die eine oder andere Weise gestillt werden wollen. Mal steht das eine im Vordergrund, mal das andere. Nehmen wir Hunger z.B. – den verspüren wir alle jeden Tag (mit Ausnahme von gesundheitsbedingt mangelndem oder unterdrücktem Hungergefühl durch Medikamenteneinnahme o.ä. bei einer Gruppe von Menschen, deren Größe ich nicht kenne). Wir haben Hunger. Morgens, mittags oder abends. Irgendwann wird es schon sein. Unser Körper schreit nach Versorgung. Entsteht diesbezüglich eine Versorgungslücke, sagt man im englischsprachigen Raum nicht umsonst „a hungry man is an angry man.“ zu Deutsch, ein hungriger Mensch ist ein verärgerter Mensch. Und damit sind wir dann nicht mehr so weit weg von Pöbeleien, Geschrei oder anderen sehr  körperlichen Aktivitäten, die diesen Missmut zum Ausdruck bringen. Missmut darüber, dass bei „mir“ etwas fehlt. 

Ja, das ist unfair, wenn wir andere dafür in Mitleidenschaft ziehen. Doch wir alle haben es schon getan. Im Babyalter ist das Schreien auch notwendig. Aber ab wann genau muss man damit aufhören? Wann ist man alt genug? Bedeutet Gewaltfreiheit den Versuch, alle Bedürfnisse dieser Welt (und wenn diese Welt aus den mich umgebenden Personen inkl. mir selbst und Hund, Katze, Maus besteht) – bedeutet das, dass wir versuchen müssen, diese zu decken?

Ich denke nicht. Eine komplett gewaltfreie Welt müsste beinhalten, dass andere ebenso wie ich selbst die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Das würde bedeuten, dass jeder die Zusammenhänge kennt, aufgrund derer er*sie entweder gewaltvoll oder gewaltfrei agiert. Eine utopische Vorstellung – wenn ich noch nicht einmal weiß und fühle, wo meine Ursachen vergraben liegen. 

Der Begriff der Gewalt bringt mit sich eine Frage und mit dieser möchte ich schließen:

„Kann man, wenn man anderen gegenüber gewaltfrei handelt, gleichzeitig sich selbst gegenüber auch gewaltfrei sein?“

Was meinen Sie?

 

09.09.2024 Sarah-Isabell Hellriegel-Rodríguez

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